Tuten und Blasen

Ohne großes Aufsehen hat ein Ludwigsburger Lehrer aus Leidenschaft, aber auch zu pädagogischen Zwecken eine bedeutende Sammlung von historischen Musikinstrumenten zusammengetragen. Seit neuerem ist diese museumsreife Kollektion auch öffentlich zugänglich. Werner M. Grimmel hat sie angesehen und berichtet. Tuten und Blasen Eine Ausstellung zur Geschichte der Blasinstrumente / Von Werner M. Grimmel Selten denken wir daran, dass bei uns vertraute Musik nicht nur deshalb erklingen kann, weil es Spieler gibt, die ihre jeweiligen Instrumente beherrschen, sondern auch, weil diese Instrumente selbst überhaupt existieren, weil sie jemand erfunden und gebaut hat. Und selten machen wir uns bewusst, dass die uns vertrauten Musikinstrumente keineswegs selbstverständlich so beschaffen sind und so klingen, wie wir sie kennen. Überall auf der Welt haben Menschen, seit es sie gibt, neben ihrer Stimme auch Hilfsmittel eingesetzt, um Töne hervorzubringen und Musik im weitesten Sinne zu machen. Bis in die Steinzeit reichen die nachweisbaren Versuche zurück, aus verschiedensten Materialien Klangerzeuger herzustellen, deren "Bedienung" eine gewisse Spieltechnik erfordert. Unzählige Instrumente sind auf diese Weise im Laufe von Jahrtausenden entstanden, deren Machart stets auch den Stil der auf ihnen gespielten Musik beeinflusst hat. Kaum überblickbar ist die Fülle der heute weltweit bekannten Musikinstrumente aus Geschichte und Gegenwart. Wer Ordnung in diesen Dschungel vielfältiger Klangerzeuger bringen möchte, braucht wie Theseus im Labyrinth des Minotaurus einen Ariadnefaden. Gängige Kategorien wie Steich-, Blas- und Schlaginstrumente reichen da nicht aus. Und wer gar eine Sammlung anlegen will, benötigt nicht nur einen langen Atem und entsprechende finanzielle Ressourcen, sondern auch umfassende Kenntnisse und nicht zuletzt ausreichend Platz. Dies gilt selbst dann, wenn man sich auf eine bestimmte Art von Instrumenten beschränkt. In Ludwigsburg gibt es jetzt eine Ausstellung mit Blasinstrumenten zu bewundern, die umfassender ist, als alle vergleichberen derzeit zugänglichen Sammlungen nicht nur im Großraum Stuttgart. Dabei präsentiert sie "nur" rund ein Drittel der etwa sechshundert Instrumente, die der gelernte Orgelbauer und studierte Architekt Friedemann H. Lutz in über dreißig Jahren zusammengetragen hat. Angefangen hat das alles, weil Lutz, der seine Ausbildung im Orgelbau bei den Firmen Mühleisen in Straßburg und Weigle in Echterdingen absolvierte und seit 1971 als Gewerbelehrer für Blasinstrumentenbau tätig ist, Anschauungsmaterial für seinen Unterricht brauchte. Doch mittlerweile ist ihm diese Aktivität längst zur Passion geworden, ist er nahezu weltweit bis in entlegenste Winkel auf der Suche nach immer neuen Exemplaren und scheut weder Mühe noch Kosten, solange sie vertretbar sind, um an besonders seltene oder wertvolle Stücke zu kommen. Kenner und Neugierige, die besichtigen wollen, was Lutz nun aus seiner Sammlung zu einem historischen Lehrgang über die Geschichte des Blasinstrumentenbaus zusammengestellt hat, müssen freilich erst einmal das Berufschulzentrum der Oskar- Walker- Schule bei Ludwigsburg ausfindig machen. Dort sind die Vitrinen gleich links nach dem Haupteingang zu sehen. Dem unbedarften Besucher mögen die in recht engem Raum hängenden, durch Fotos und Zeichnungen ergänzten Exponate zunächst tatsächlich wie ein undurchdringlicher Dschungel vorkommen. In Wirklichkeit sind sie nach einem ausgeklügelten System geordnet, das sich anhand einer Legende erschließt. So gibt es für die einzelnen Instrumentengruppen, die nach Mensur (zylindrisch und konisch) und Tonerzeugung (labial mit Blasloch oder Spalt, Aufschlagzunge, Gegenschlagzunge, Polsterzunge) eingeteilt sind, verschiedene Ebenen, auf denen sich jeweils ihre geschichtliche Entwicklung von den Anfängen bis zur Gegenwart verfolgen läßt. Auf diesen Ebenen sind die einzelnen Instrumente in jeder Vitrine mit Nummern versehen, die unten erläutert werden. Die Anordnung der Vitrinen folgt den musikgeschichtlichen Epochen. Fachkundige Interessenten, die detailliertete Informationen wünschen, können über das Sekretariat eine Führung mit Lutz vereinbaren. Vergleicht man die Ludwigsburger Schau mit der Musikinstrumentensammlung des Württembergischen Landesmuseums im Stuttgarter "Fruchtkasten", die auf vier Stockwerken und insgesamt mehr als tausend Quadratmetern Ausstellungsfläche, die zu Beginn dieses Jahrhunderts für Lehr- und Anschauungszwecke zusammengetragen , seit 1975 stark erweiterten Bestände des ehemaligen Landesgewerbemuseums zeigt, dann fallen nicht nur die unterschiedlichen Ausbreitungsmöglichkeiten ins Auge. Die Stuttgarter Dauerausstellung umfasst schwerpunktmäßig Tasteninstrumente aller Art, Orchesterinstrumente des neunzehnten Jahrhunderts und Geräte zur Musikreproduktion von der Flötenuhr bis zum CD- Player, präsentiert aber nicht entfernt so viele Blasinstrumente wie die nahezu lückenlose Ludwigsburger Präsentation. Wie jeder leidenschaftliche Sammler jagt auch Lutz dem letzlich nie erreichbaren Ideal der Vollständigkeit nach. Während im "Fruchtkasten" das graphische Gesamtkonzept und die künstlerische Ausgestaltung der Räume auf eine atmosphärische Vergegenwärtigung der einzelnen Bereiche abzielen und man beispielsweise auch anschaulich darüber informiert wird, wer wann wo und zu welchem Zweck mit den einzelnen Instrumenten musiziert hat, konzentriert sich die Ausstellung in der Oscar- Walcker- Schule weitgehend auf technische Details in der Bauweise der Instrumente und ihre Veränderungen im Laufe der Zeiten. Auch hier hat man die Wahl, chronologisch vorzugehen oder einfach kreuz und quer seine eigenen Entdeckungen zu machen. Da fällt dann etwa ein originales ziegenlederverkleidetes Serpent aus Obstholz ins Auge, das sich wie eine Schlange windet. Die Legende klärt darüber auf, dass es zur Familie der konischen Zinken gehört, die in der Renaissance in mannigfachen Varianten beliebt waren. So lernt man etwa auch sogenannte stille Zinken mit angedrehtem Mundstück kennen, die sich von den geraden oder "weißen" Zinken mit aufgestecktem Mundstück unterscheiden. Das ausgestellte Serpent wurde etwa 1770 in London gebaut. Seiner Form nach gehört es zu den krummen Zinken, die wegen ihrer dunklen Lederumwickelung auch " schwarze" Zinken genannt werden. Ihre zweischalige Bauweise . Leder über Holz - dient der Abdichtung des Rohrs. Nicht von ungefähr hießen die hohen Zinken auch Cornette. Der Name verweist auf ihre frühen Vorformen aus Steinbockhorn. Dies alles und noch viel mehr erfährt der Besucher, wenn er geduldig den einzelnen Zuordnungen von Exponat und Beschreibung folgt. Gerade die vorgeschichtlichen und antiken Prototypen heutiger Blasinstrumente wie Flöten, Klarinetten, Oboen, Trompeten oder Hörner wecken Interesse. Zu sehen sind etwa Blasloch-Okarinas aus Terrakotta, südamerikanische Panflöten oder ein Didgeridoo aus einem von Termiten hohlgefressnen Eukalyptusast, den man sogar nicht anbohren könnte. Instrumente aus ferner Vergangenheit hat Lutz meist durch Kopien oder durch neuere Instrumente mit gleichem oder ähnlichem Aussehen ersetzt. Dabei kam ihm der Umstand entgegen, dass viele antike Formen sich in außereuropäischen Musikkulturen bis heute nahezu unverändert erhalten haben. Die altägyptische Mehmed, eine Vorform der Klarinette, ist beispielsweise über viertausendfünfhundert Jahre hinweg gleich geblieben, wenn man einmal davon absieht, daß sie in der Antike stets doppelt in paralleler Anordnung gespielt wurde. Ansonsten kann man dasselbe als Instrument mit einem Blatt aus Schilfrohr heute noch als Zummarah in Kairo kaufen. Auch Doppelrohrblattinstrumente wurden in der Antike doppelt verwendet, vom Spieler aber in umgekehrter V-Form gehalten, wie Abbildungen griechischer Aulosbläser oder römischer Tibia- Musiker zeigen. Ihre zylindrische Variante ist heute jedoch nur noch in der Türkei - dort als Mey - und in anderen asiatischen Ländern verbreitet. In Europa wurde sie immerhin noch in der Renaissance weiterentwickelt. All diese Rankette, Dulciane, Sordune oder Krummhörner sind freilich nur als entsprechende Orgelregister bis in die Gegenwart gebräuchlich geblieben. Auch viele vermeintlich neue Spieltechniken, wie sie im Jazz oder in der avantgardistischen Kunstmusik unserer Zeit in Gebrauch kamen, sind in Wirklichkeit lange vor der christlichen Zeitenwende bekannt gewesen. Gleichzeitiges Blasen und Singen, Zirkularatmung oder die Erzeugung von Kombinationstönen pflegten bereits die altägyptischen Längsflötenspieler. Weitere wertvolle Glanzstücke der Ausstellung sind zwei originale Barockhörner, wie sie Lully ins Orchester eingefühtt hat. Eine Pariser Trompe Dauphin von 1780 und ein Halbmond genanntes Militärhorn, das um 1740 von Johann Heinrich Ackenhausen in Lüneburg gebaut wurde. Nachdem sie über Böhmen in die österreichische Kunstmusik Eingang fanden, wurden sie mit Setzstiften oder Stimmvorrichtung gespielt. Außerdem ist die Kopie einer barocken Langtrompete des Nürnberger Instrumentenbauers Johann Wilhelm Haas (1649 - 1723) zu sehen. Daneben erblickt man -ebenfalls als Kopie- jene gewundene Jägertrompete, mit der sich einst der Starbläser und Komponist Johann Gottfried Reiche von Bachs Porträtist Hausmann abbilden ließ, weil er kein fürstliches Trompeter-Privileg besaß. Sehenswert ist auch ein originales Pariser Inventionshorn aus der Zeit um 1820 mit dünnem Blechmundstück und sieben Aufsteckbögen samt dazugehörigem Koffer, den der Spieler ständig mir sich herumschleppen musste, um für alle Tonartenwechsel gerüstet zu sein. Um diese lästigen Wechsel zu vermeiden, wurden die Aufsteckbögen später in das Instrument eingebaut. Unter den unzähligen Exponaten aus der Epoche der Klassik und Romantik ist noch das Modell einer Klappentrompete zu erwähnen, wie sie Haydn und Hummel für ihre Trompetenkonzerte voraussetzten. Mendelssohn, der wohl nur mittelmässige Spieler kannte, fand diese Instrumente unbefriedigend und verglich sie mit einer bärtigen Frau. Ebenfalls wertvoll sind ein württembergisches Fagott von 1800, eine Ophiklëide von 1830 oder eine Glasflöte von 1809 (dem Todesjahr Haydns) mit erstmals zwischen Säulchen gelagerten Silberklappen - eine Erfindung, die die Klappenmechanik der Holzblasinstrumente bis hin zu Theobald Böhms Ringklappenflöte von 1832 und Buffets Übertragung dieser Bauweise auf die Klarinette revolutioniert hat. Kurios mutet eine Spazierstockflöte von 1850 an, mit der man unter dem Fenster der Liebsten musizieren konnte. Auch wichtige Neukreationen des neunzehnten Jahrhunderts wie Böhms heute überall auf der Welt gespielte zylindrische Flöte - hier als Nachbau eines Exemplars von 1847 - oder ein echtes Sopransaxophon von 1895 dürfen nicht fehlen. Vergleicht man die Exponate aus dieser Zeit mit den nicht minder zahlreichen aus dem 20.Jahrhundert, dann fällt auf, daß das 19. Jahrhundert die Zeit großer Erfindungen im Blasinstrumentenbau war, während später kaum mehr grundlegende Neuerungen hinzukamen. Außerdem zeigt sich, dass häufig auch nach einer bahnbrechenden Erfindung alte und neue Bauweise noch eine gute Zeit lang nebeneinander bestanden, bevor sich letztere flächendeckend durchsetzte. Insgesamt macht die Ausstellung auch bewusst wie wenig selbstverständlich die Standardbesetzung des klassisch. romantischen Orchesters eigentlich ist. Ihre Zusammensetzung scheint in mancher Hinsicht eher wie die Skyline von Manhattan im Zusammenwirken von Planung und zufällig gewachsen zu sein, auch wenn eine gewisse Logik im Bedürfnis nach immer massiverem Klang im 19. Jahrhundert erkennbar wird. Wer sich für die "Geburt des modernen Orchesters" interessiert und für die Frage, warum diverse Barockinstrumente wie Blockflöte, aber auch Gitarre, Laute oder Cembalo keinen Eingang in diesen Klangkörper gefunden haben, sondern zumindest in diesem Rahmen sozusagen ausgestorben sind, kommt beim Besichtigen der Ludwigsburger Ausstellung auf seine Kosten. Wie sich das Sinfonieorchester der Klassik im 19. Jahrhundert weiterentwickelt hat bis hin zum Riesenorchester eines Richard Stauss, wird auch nachvollziehbar, wenn man nur die Entwicklung der Blasinstrumente, die Verbesserungen beim idealen Orchesterklang und die neuen Klangfarben jener Zeit verfolgt. So erweist sich diese Präsentation nicht zuletzt als eine wahre Fundgrube für alle, die Anschauungsunterricht in Sachen historischer Aufführungspraxis bis hinein ins 19. Jahrhundert nehmen wollen. Angesichts der überwältigenden Vielfalt der gezeigten Instrumente wird klar, dass die uns vertraute Musik nur einen winzigen Ausschnitt der historisch und ethnographisch verfügbaren Klangpalette nutzt. Zudem drängt sich der Eindruck auf, dass die weltweit immer mehr sich durchsetzende Monokultur klassisch-romantischer Instrumentenauswahl und ihrer Nachfahren in der internationalen Popmusik zum Aussterben zahlreicher regionaler Instrumentenformen und der damit verbundenen Musikstile führt. Immerhin trägt die verdienstvolle Sammlung, die demnächst durch Klangbeispiele und sonstige über Kopfhörer abrufbare Erläuterungen ergänzt werden soll, dazu bei, dass wenigstens die Erinnerung an zeitlich und geographisch ferne Musikwelten wach bleibt. Öffnungszeiten: tagsüber von Montag bis Freitag, am Samstag nur vormittags; während der Schulferien geschlossen. Berufschulzentrum Oscar- Walcker- Schule (gleich links nach dem Haupteingang) Römerhügelweg 53, 71636 Ludwigsburg Sektetariat : tel. 07141 /4 44 91 01

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